Popularmusik zwischen Spotify & Spektrogramm, Kunst & Welterklärung

Ralf von Appen im Gespräch mit Günther Wildner


Günther Wildner
: Mit welchen Wien-Klischees bist du nach Österreich gekommen, welche haben sich bewahrheitet?
Ralf von Appen: Es sind mir nicht unbedingt Klischees begegnet, vielmehr habe ich in den ersten Wochen bemerkt, dass manche Wiener nicht unverblümt sagen, was sie denken, sondern dass man mitunter viel zwischen den Zeilen lesen muss. Daran gewöhne ich mich jetzt. Insgesamt bin ich aber sehr herzlich aufgenommen worden, was mir den Einstieg sehr leicht gemacht hat.

GW: Wie ist deine Beziehung zu Wien?
RvA: Ich war schon oft hier, zunächst weil ich nach meiner Promotion von den Studierendenvertreter*innen an der Universität Wien um einen Lehrauftrag gebeten worden bin. Sie haben mich sogar eingeladen, bei Ihnen auf dem Sofa zu übernachten, weil Lehraufträge nicht so gut bezahlt werden. Für solche Blockveranstaltungen bin ich immer mal wieder nach Wien gekommen, 2009/10 für eine Gastprofessur auch ein ganzes Semester. Dann kamen noch einige Podiumsdiskussionen oder Teilnahmen an Ringvorlesungen dazu. Die mdw ist jetzt allerdings ganz neu für mich.

GW: Wie ging es mit der Musik los bei dir?
RvA: Meine Eltern und mein Onkel haben ausschließlich Pop- und Rockmusik gehört, nie selber gespielt, aber eben gehört. Mit sechs oder sieben Jahren bekam ich eine Kindergitarre, damit habe ich vor dem Spiegel Rockstar gespielt, außerdem habe ich Kissen auf meinem Bett verteilt und sie als Schlagzeug verwendet. Musik war immer ganz wichtig für mich. Ich habe die Musikvideosendung „Formel Eins“ und die ZDF-Hitparade gesehen, die wöchentlichen Chart-Sendungen im Radio verfolgt und begonnen, Platten zu sammeln. Mit 13,14 war ich von Punk und Metal angezogen, habe autodidaktisch E-Gitarre gelernt und in ersten Bands gespielt. Zu Klassischer Musik hatte ich überhaupt keine Berührungspunkte, trotzdem wollte ich nach dem Abitur Musikwissenschaft studieren. Als ein Psychologe an meiner Schule einen Vortrag über „Musik als Droge“ gehalten hat, habe ich mir das von ihm empfohlene „Handbuch zur Musikpsychologie“ gekauft, das er da hochgehalten hatte, und gemacht, was man mit so einem Handbuch eigentlich nicht macht: in einem durchgelesen von vorne bis hinten, obwohl das 600 Seiten waren. Schließlich habe ich dann ganz am Ende im Serviceteil gesehen, dass es einen „Arbeitskreis Studium populärer Musik“ gibt, also eine Vereinigung von Forscher*innen im Bereich Popularmusik, wo auch eine Telefonnummer angegeben war … Da hat man mir gesagt: „Ja, das können Sie studieren – in Gießen oder in Hamburg. Hamburg war mir zu dicht, weil ich auf der Insel Fehmarn großgeworden bin. Ich bin dann also nach Gießen gegangen mit meinen doch teilweise sehr naiven Vorstellungen von Musikwissenschaft – u.a. gab es bei einem namhaften Historiker das Seminar „Musik nach 1950“. Das wäre doch das Richtige für mich, dachte ich, und habe gestaunt, dass nicht einmal erwähnt wurde, dass es nach 1950 nicht nur Stockhausen, sondern auch so etwas wie die Beatles gab.

GW: Wie ging es dann weiter?
RvA: Ich habe regulär Musikwissenschaft studiert, also mir die ganze Musikgeschichte auf der einen Seite angeeignet. Zum anderen hatte Gießen einen Schwerpunkt in Systematischer Musikwissenschaft, also Musikpsychologie, Musiksoziologie und Musikästhetik. Diese Themenfelder haben mich sehr interessiert, auch weil es viele Anknüpfungspunkte zu populärer Musik gab. Popmusik selbst hat eine relativ geringe Rolle im Studium gespielt. Ich bin aber oft aus den Seminaren gekommen und dachte: Das müsste man noch mal auf Pop übertragen! Zum Beispiel in einem Seminar über Postmoderne in der Musik des 20. Jahrhunderts, wo Popmusik nicht erwähnt wurde, habe ich mir oft überlegt: Ja, aber das haben die Beatles oder David Bowie so viel früher gemacht als dieser Komponist in den 80er-Jahren. Das Übertragen in die Popmusik fand ich sehr reizvoll, sodass ich dann meine Doktorarbeit in diesem Bereich geschrieben habe, zur einen Hälfte musikpsychologisch und zur anderen Hälfte empirisch und musikphilosophisch.

GW: Was waren da die konkreten Forschungsfragen?
RvA: Wie bewerten wir denn jetzt eigentlich Musik? Ist das wirklich nur subjektiv? An welchen Maßstäben orientieren wir uns dabei? Haben diese Maßstäbe irgendeine Verbindlichkeit? Inwiefern sind sie durch unsere Sozialisation oder Marktinteressen bedingt? Sind es in anderen Teilen der Welt, in anderen Generationen ganz andere? Dazu habe ich anhand von 1.000 aktuellen Plattenrezensionen auf Amazon analysiert, wie von den Nutzern Werturteile gefällt werden. Wie wichtig sind Originalität, Texte, Emotionen? Wie begründen Menschen dort ihre Werturteile? Am Ende konnte ich dann eine Statistik erstellen, die zeigt, welche Kriterien wesentlich sind und wie sie miteinander verknüpft sind. Das war der empirische Teil. Im philosophischen Teil habe ich versucht, die Schriften des Ästhetikers Martin Seel auf Popmusik zu übertragen und zu den empirischen Ergebnissen in Beziehung zu setzen. Seel schreibt Faszinierendes über ästhetische Erfahrung im Allgemeinen, aber eben kaum über Musik. Was reizt uns eigentlich im Kern an Musik, welche Funktionen erfüllt sie für uns? Warum widmen einige Leute ihr Leben der Musik? Worin liegt also der individuelle Wert der Musik begründet? Das wollte ich brennend wissen.

GW: Dabei nimmst du aber auch die Musik selbst genauestens unter die Lupe?
RvA: Ja, nach meiner Promotion habe ich einen Schwerpunkt zur Analyse populärer Musik entwickelt, denn die Musik selbst war kurioserweise immer so ein bisschen eine Blackbox in allen wissenschaftlichen Texten zur Popmusik, die ich bis dahin gelesen hatte. Das lag u.a. daran, dass die Musikwissenschaft die Popmusik sehr lange ignoriert hat und sich die meisten Forscher*innen stattdessen mit kultur-, sozial oder medienwissenschaftlichen Fragen befasst haben. Ich habe ein paar Kollegen kennengelernt, die sehr wohl etwas Substantielles zur Musik zu sagen hatten, und mir wurde klar, dass es für die nächsten Jahre mein Ziel sein sollte, mich musikanalytisch mit Popmusik auseinanderzusetzen, um zu verstehen, was dort hinsichtlich Form, Harmonik, Rhythmik, Sound etc. passiert. Das habe ich zum Thema gemacht und zur historischen Entwicklung von Songformen (AABA, Verse/Chorus usw.) geforscht. Wie können wir z.B. am Computer mithilfe von Spektrogrammen analysieren, was im mikrorhythmischen Bereich von Millisekunden passiert? Oder Intonation, die mathematisch nicht astrein ist: Wie kann man diese mit Software messen, um genauer fassen zu können, wie und warum Sänger*innen vom musiktheoretischen Ideal abweichen?

GW: Die Rolling Stones als Beispiel: Jeder Einzelne spielt metrisch ungenau, aber im Zusammenklang entsteht ein kompakter Bandsound.
RvA: Das tatsächlich mit einem Spektrogramm sichtbar zu machen, würde mich sehr reizen! Hier liegt tatsächlich auch eine private Liebe von mir, die ich zum Thema meiner Forschung gemacht habe. Zusammen mit den Kollegen André Doehring, der jetzt in Graz Professor ist, und dem verstorbenen Markus Frei-Hauenschild habe ich eine Korpusanalyse sämtlicher Stones-Veröffentlichungen hinsichtlich Form und Harmonik gemacht, um das Klischee zu hinterfragen, dass die Band nicht wegen der Musik interessant sei, sondern wegen der Attitüde, des Images – während die Musik sehr viel simpler sei als die der Beatles. Über die Beatles gibt es jede Menge Bücher, über die Stones nur ganz wenig musikwissenschaftliche Literatur.

GW: Was habt ihr herausgefunden?
RvA: Etwa, wie Image und Musik zusammenhängen. Mit dem „loosen“ Zusammenspiel, den improvisatorischen Elementen, der Abmischung usw. macht die Musik ganz andere Deutungsangebote als die der Beatles. Das Oppositionelle, das Outlaw-Element lässt sich auch an Songformen, Harmonik und Rhythmik festmachen. Der Band war es wichtig auszuprobieren, wie man auch mit nur drei Akkorden reizvolle Dinge machen kann, wenn nämlich z.B. innerhalb der drei Akkorde das tonale Zentrum ambivalent ist wie in „Midnight Rambler“. Spannend war aber auch die Erfahrung, unsere verschiedenen Hörweisen und Deutungen zu vergleichen. Es wurde uns klar, dass Analyse im Idealfall nicht das Geschäft eines einzelnen Menschen am Schreibtisch ist, sondern dass viel mehr dabei herauskommt, wenn man sie mit mehreren Leuten betreibt – zunächst unabhängig. Dann vergleicht man die Notizen: „Wie, das hörst du als Tonika? Ich höre das als andere Stufe!“ So konnten wir mehrdeutige Stellen identifizieren. Ich bevorzuge solche Gruppenanalysen: Nicht der Musikwissenschaftler ist die Autorität, der entscheidet, wie es ist, sondern die Diversität einer Gruppe bringt differenzierte Ergebnisse. Ich möchte damit auch wegkommen von dem Bild, dass sich Meisterkomponist und Meistermusikwissenschaftler auf Augenhöhe treffen. Mir ist die Subjektivität der Hörer*innen wichtiger: Was ziehen sie für sich aus Musik heraus, auch wenn sie keine musikalische Ausbildung haben?

GW: Erleichtern Technik und Verfügbarkeit von Musik heute die Forschung?
RvA: Ja, durch die große Musikauswahl auf Spotify und anderen Streamingplattformen erhalten wir die Möglichkeit zu riesigen Korpusanalysen, wo wir z.B. problemlos vom Schreibtisch aus 100 Hits aus dem Jahr 1982 anhören können, um nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden zu suchen. Der Einfluss von Computern und verstärkter Rechnerleistung wird etwa bei der Arbeit mit Spektrogrammen immer wichtiger. Aber auch Programme wie Melodyne, die fürs Studio gemacht sind, kann man wiederum als Analysetools nutzen.

GW: Hat Spotify die Musik selbst verändert?
RvA: Das wird zurzeit in vielen journalistischen Texten behauptet. So soll es z.B. entscheidend sein, in den ersten 30 Sekunden ganz viele Hooks zu liefern, damit die Leute nicht abschalten, weil erst ab der Sekunde 31 Geld fließe. Die Aufgabe der Wissenschaft wäre es, das hieb- und stichfest zu verifizieren und von Vermutungen wegzukommen. Man müsste eine große repräsentative Stichprobe von Songs untersuchen und diese mit einer älteren Kontrollgruppe vergleichen; und außerdem in Erfahrung bringen, wie die Abrechnungsmodalitäten tatsächlich aussehen. „Circles“ von Post Melone als einer der meistgestreamten Songs zur Zeit lässt sich z.B. über 30 Sekunden Zeit, bis der Gesang beginnt; dagegen kamen Popsongs in den frühen 1960ern sofort zum Punkt.

GW: Wie gewichtest du Genres und Forschungsgegenstände in deiner Arbeit?
RvA: Mainstream und aktuelle Musik sind mir sehr wichtig, weil ich es immer als problematisch empfunden habe, dass Menschen, wenn sie älter werden, so sehr an der Musik kleben, mit der sie groß geworden sind, und Eltern dann immer wieder ihren Kindern sagen: „Das kannst du hören? Das ist ja unerträglich!“ Es geht auch vielen Forscher*innen so, dass sie die Inhalte ihres Studiums als Maßstab nehmen und irgendwann kein Interesse mehr haben zu beobachten, was aktuell gehört wird. So wollte ich nie werden. Dabei helfen mir bislang meine Kinder, die sind 20, 16 und 13. Da kommen alle Arten von Mainstreammusik aus den Zimmern, vor allem Hip-Hop. Bislang bin ich da noch auf dem aktuellen Stand, und mein Sohn, mein mittlerer, weiß auch, woran ich so arbeite, und bringt mir neue Beispiele: „Hör mal was hier passiert, das ist neu, das müsste Dich doch interessieren!“ Wenn man sich erst mal damit befasst, auch wenn das erste Urteil negativ ist, bemerkt man doch viele Dinge, die sich lohnen untersucht zu werden. An der mdw ist reizvoll, dass ich noch stärker mit Leuten zusammenkomme, die eine sehr hochwertige Ausbildung an ihrem Instrument genossen haben, die tolle Musiker sind. Dass es hier sehr viel einfacher sein wird zu sagen: „Wer transkribiert mal eben die Melodie und wer hört die Akkorde raus?“

GW: Ist die Interdisziplinarität in der Popularmusikforschung in Bewegung und Entwicklung?
RvA: Die ist selbstverständlich und war immer schon das zentrale Merkmal. Deswegen nennt sich der Bereich im Englischen auch Popular Music Studies, um zu betonen, dass es nicht eine Disziplin ist, sondern dass sehr unterschiedliche Perspektiven einfließen: wirtschaftliche, soziologische, kulturwissenschaftliche Ansätze, aber auch Fächer wie Anglistik, Germanistik, Amerikanistik oder Religionswissenschaften. Hier an der mdw ist vor allem die Zusammenarbeit mit den Musiksoziolog*innen interessant und mit dem Institut für Kulturmanagement und Gender Studies. Die Interdisziplinarität beginnt übrigens schon innerhalb des ipop: Magdalena Fürnkranz kommt ja aus der Theaterwissenschaft und sie befasst sich immer auch mit dem Performance-Aspekt.

GW: Im Moment bereitest Du die Herausgabe eines Buches zum Thema „Nation als Kategorie populärer Musik“ vor. Neben der politischen hat Musik ja gottseidank auch noch immer ihre ästhetische Dimension?
RvA: Und dabei beschäftigen mich die Begriffe „Populäre Musik“ versus „Kunstmusik“, die eine klare Wertung implizieren. Das eine ist per Definition wertvoll und Kunst, und das andere dient in irgendeiner Form der Unterhaltung und ist für alle zugänglich. Gegen diese Dauer-Denunzierung sperre ich mich und frage „Was ist eigentlich Kunst? Wer entscheidet das und nach welchen Kriterien kann Popmusik Kunst sein?“ Eine große Rolle spielt dabei die sozialisierte Rezeptionshaltung, die uns auch in der Schule vermittelt wird. Plattformen wie Spotify führen hier aber auch zu Veränderungen. Die Playlisten dort legen nahe, dass sehr viele Menschen „klassische Musik“ nicht mit Kunstansprch hören, sondern zum Essen, zum Einschlafen, zur Entspannung … Zugleich suchen auch Pop-Hörer*innen nach Bedeutungen in ihrer Musik, achten auf das oft rätselhafte Zusammenspiel von Musik und Text. Popsongs lassen uns erfahren, wie man die Welt mit anderen Augen sehen kann, sie lassen uns die eigene Perspektive hinsichtlich der zentralen Fragen des Menschseins hinterfragen – diese Form der Weltbegegnung ist ein ganz wesentlicher Aspekt der Kunstwahrnehmung.

GW: Hieße das, dass nur gute Musik Kunst sein kann?
RvA: Es wäre falsch, sich aus der Position des Wissenschaftlers anzumaßen zu entscheiden, was gute Musik ist und was nicht. Ich brauche auch keinen Kunstbegriff, um meine Lieblingssongs zu legitimieren. Anders ausgedrückt: Musik muss nicht Kunst sein, um gut zu sein. Man kann Musik ja aus ganz anderen Gründen hören, die nicht weniger legitim sind. Was ist falsch an Unterhaltung, an Tanzen und an Die-Wut-Rauslassen? Das sind ja wichtige Dinge, die Musik auch mit uns anstellen kann.

GW: Dein unmittelbarer Zukunftswunsch?
RvA: Die studierenden Musiker*innen an der mdw noch stärker für wissenschaftliche Fragestellungen zu sensibilisieren und zu begeistern!

Ralf von Appen
Nach dem Studium der Musikwissenschaft, Philosophie und Psychologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen war Ralf von Appen als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Universitäten in Bremen und Gießen tätig, wo er 2007 mit der Arbeit „Der Wert der Musik. Zur Ästhetik des Populären“ promovierte und 2017-2019 die Professur für Musikpädagogik vertrat. Lehraufträge führten ihn darüber hinaus nach Oldenburg, Stuttgart, Krems und an die Universität Wien, wo er 2009/10 eine Gastprofessur innehatte.
In Forschung und Lehre befasst sich Ralf von Appen mit populärer Musik unter all ihren Aspekten, zurzeit insbesondere mit Fragen der Wertung und Ästhetik sowie mit Methoden ihrer Analyse. Seit 2008 ist er Vorsitzender der Gesellschaft für Popularmusikforschung (GfPM), seit 2018 Herausgeber der jährlich erscheinenden Buchreihe Beiträge zur Popularmusikforschung und seit 1. Oktober 2019 Universitätsprofessor für Theorie und Geschichte der Popularmusik an der mdw.

Fotos: Günther Wildner
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